von Seval Bayrak
Mit ihrem Debütroman Kangal ist der Autorin Anna Yeliz Schentke ein bemerkenswerter literarischer Beitrag zur Gegenwartsliteratur gelungen: ein politischer Jugendroman, der emotional berührt, literarisch überzeugt und jungen Leser:innen einen unmittelbaren Zugang zu komplexen Themen bietet. Kangal stellt mutig Fragen – nach Zugehörigkeit, nach Freiheit, nach Identität – und tut dies ohne belehrenden Ton. Stattdessen erzählt der Roman eine bewegende Geschichte, die im Gedächtnis bleibt.
Im Mittelpunkt stehen Dilek und Tekin, ein junges Paar aus Istanbul. Sie leben in einem zunehmend autoritären Staat, in dem kritisches Denken zur Gefahr wird. Dilek trifft die Entscheidung, in die Freiheit zu fliehen – nach Deutschland, allein und ohne Tekin einzuweihen. In Frankfurt kämpft sie mit Sprachbarrieren, Isolation und den Schatten der Vergangenheit. Tekin hingegen bleibt zurück – mitten in einem System der Angst, in dem Repressionen Alltag sind. Die Entfernung zwischen den beiden wächst, doch die politischen Umstände verbinden sie auf beklemmende Weise. Kangal thematisiert eindringlich, was es bedeutet, sich weder in der Heimat noch im Exil sicher zu fühlen.
In einem Satz: Kangal erzählt die Geschichte junger Menschen, die in einem autoritären System um Freiheit, Zugehörigkeit und Identität kämpfen.
Besonders stark ist die Behandlung des Themas politische Partizipation: Der Roman zeigt Mut zur Meinungsäußerung ebenso wie die Bedrohung durch autoritäre Strukturen. Gleichzeitig stellt er Fragen an Leserinnen und Leser in demokratischen Gesellschaften: Wie gelingt politisches Handeln, wie wird Teilhabe möglich? Kangal regt dazu an, über die eigene Rolle in Öffentlichkeit und Gesellschaft nachzudenken – leise, eindrucksvoll, nachhaltig.
Für den Deutschunterricht ist Kangal inhaltlich wie formal ein echter Gewinn. Der Roman stellt relevante Fragen, mit denen sich Schülerinnen und Schüler identifizieren können – unabhängig von Herkunft oder Lebensrealität. Was heißt es, sich fremd zu fühlen? Eine Stimme zu verlieren? Widerstand zu wagen? Die Figuren sind keine Klischees – sie sind komplex, widersprüchlich, nahbar. Sie bieten Identifikationspotenziale nicht nur für Jugendliche mit Migrationsgeschichte, sondern auch für alle, die sich in gesellschaftlichen Strukturen fremd fühlen. Themen wie Identitätssuche, Zuschreibung und Identitätsverlust werden literarisch erfahrbar gemacht.
Auch aus didaktischer Sicht ist der Roman ideal: Die Textlänge ist schulgeeignet, eine vollständige Lektüre ist auch in begrenztem Zeitrahmen möglich. Die ungekürzte Schulausgabe von Ernst Klett Sprachen bietet folgende Unterstützung: Sie enthält einen Zeilenzähler, Annotationen sowie eine Einführung über zentrale Kontexte (abrufbar über allango). Die Ausgabe ist durchdacht didaktisiert, gut vorentlastet und begleitet den Lektüreprozess optimal. Sie richtet sich an Schülerinnen und Schüler der Klassen 8 bis 10.
Ein Hinweis zur schulischen Relevanz: Kangal ist im Schuljahr 2025/26 Pflichttext im Fach Deutsch für den schriftlichen Teil der Abschlussprüfung am Ende des 10. Schuljahrgangs an Integrierten Gesamtschulen in Niedersachsen. Dass er zugleich auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2022 stand, spricht für seine literarische Qualität.
Die Autorin selbst fasst die Stimmung ihres Romans so zusammen:
„In Kangal geht es darum, wie ein Entkommen vor einer repressiven Gesellschaft, vor einem repressiven Staat nicht mehr möglich ist. Wie Bedrohung, Unterdrückung und dieses seltsame Gefühl des Misstrauens und der Unsicherheit in jede Form von Beziehung rinnen.“ Quelle.
Kangal ist mehr als ein starkes Debüt. Es ist ein Roman, der Themen wie Demokratie und Meinungsfreiheit ins Klassenzimmer bringt. Ein Buch, das jungen Menschen auf Augenhöhe begegnet. Und ein Roman, der zeigt: Literatur ist politisch – und bleibt notwendig.Seval Bayrak ist Literaturwissenschaftlerin und Dozentin in der Erwachsenenbildung in verschiedenen Bereichen.
