von Michaela Strobel

Nicht alle Kinder oder Jugendlichen lesen gern. Wie schade kann man da nur sagen, denn Lesen entführt uns in fremde Welten, bringt uns andere Kulturen näher, lässt uns Empathie empfinden für die Protagonisten oder uns in schwierigen Situationen Handlungs-möglichkeiten erkennen. Alles wichtige Elemente im Leben.

Gerade bei Kindern und Jugendlichen aus benachteiligten Familien ist Lesen noch weit weniger präsent als bei Gleichaltrigen aus Familien, die besser gestellt sind, was in großangelegten Studien immer wieder bestätigt wird.

In Deutschland zeigt, dass der Leistungsunterschied zwischen Kindern aus bildungsnahen und bildungsfernen Elternhäusern besonders ausgeprägt ist.

Die PISA-Studien der OECD und die IGLU-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) zeigen regelmäßig, dass Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien im Durchschnitt niedrigere Lesekompetenzen aufweisen und weniger Zeit mit Lesen verbringen als ihre Mitschüler aus privilegierteren Verhältnissen.

Nichts Neues, aber immer wieder aufs Neue erschreckend, wenn Chancen- und Bildungsgerechtigkeit wichtige Ziele sein sollen.

Was aber hält diese Kinder und Jugendlichen noch mehr als die Vergleichsgruppe aus privilegierteren Familien vom Lesen ab?

Es gibt mehrere zentrale Faktoren, die Kinder aus bildungsfernen oder benachteiligten Schichten vom Lesen abhalten:

  • Mangelnde Vorbilder und Lesekultur im Elternhaus:

Wenn Eltern selbst nicht oder wenig lesen, kein gutes Bild von Bildungseinrichtungen oder Lernen im Allgemeinen haben, fehlen wichtige Rollenmodelle. Kinder und Jugendliche, die ihre Eltern nie mit Büchern sehen, sind seltener intrinsisch motiviert was Lesen angeht.

  • Fehlende Ressourcen:

In sozioökonomisch schwächeren Haushalten sind oft wenige bis keine Bücher vorhanden.

  • Sprachbarrieren:

In Familien mit Migrationshintergrund erschweren Sprachbarrieren den Zugang zu Literatur, besonders wenn die Eltern die Sprache nicht sicher beherrschen und daher weniger beim Lesenlernen unterstützen können. Auch haben Eltern oft Zweifel, in welcher Sprache sie vorlesen sollen, da sie nur die Herkunftssprache entsprechend beherrschen, ihre Kinder aber die Zielsprache lernen sollen.

  • Konkurrenz durch andere Medien:

In bildungsfernen Familien wird die digitale Mediennutzung oft weniger stark reguliert, was zu einem höheren Konsum von Filmen, Videospielen und sozialen Medien führt – alles Aktivitäten, die mit dem Lesen konkurrieren und dabei bequemer sind.

  • Geringere frühkindliche Leseförderung:

Das Vorlesen im frühen Kindesalter schafft die Basis für spätere Lesefreude. Studien – wie die der Stiftung Lesen – zeigen, dass in bildungsfernen Familien durchschnittlich weniger vorgelesen wird.

  • Negative Selbstwahrnehmung:

Frühe negative Erfahrungen mit dem Lesen können zu einem Teufelskreis führen, in dem Kinder sich als „schlechte Leser“ wahrnehmen und daher das Lesen meiden. Dies zieht sich oft durch Familien und sogar Generationen.

  • Berufliche Belastungen:

Eltern in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen arbeiten häufig in mehreren Jobs oder im Schichtbetrieb, was weniger Zeit für gemeinsames Lesen und Vorlesen lässt.

Leseförderung geht alle an

Zwar ist Leseförderung eine Kernaufgabe von Schule, doch kann diese allein die Lücken sicher nicht schließen, Lesemotivation weder allein anbahnen noch aufrecht halten. Der Bezug zu Literatur und Büchern ist bereits vom Elternhaus in vielerlei Hinsicht defizitär. Wo kann man nun ansetzen, um diese Defizite zu beheben?

Da literarische Bildung ein wichtiger Schlüssel zu gesellschaftlicher Teilhabe ist, muss man auch in der gesamten Gesellschaft, im Sozialisationsprozess und im lebenslangen Leseprozess nach Optionen suchen, um gerade auch benachteiligte Kinder und Jugendliche an diese heranzuführen. Dies kann ein Schritt hin zu mehr Chancengerechtigkeit sein.

Dabei braucht es die verschiedensten Akteure im schulischen und außerschulischen Bildungsbereich, denn nur so kann es gelingen mit immer wieder anderen Ansätzen, Ideen und Themen Kinder und Jugendliche da abzuholen, wo sie stehen und herauszufinden, was sie interessiert.

Die Ansätze müssen reichen von der Kita, über die Grundschule bis hin zu den weiterführenden Schulen und sogar darüber hinaus. Oberstes Ziel muss neben der Vermittlung von Lesekompetenz und Lesemotivation die Vermeidung von Stigmatisierung durch ein wertschätzendes und kultursensibles Vorgehen sein.

Die Fördermöglichkeiten sollten alles einbeziehen, was heute unter dem erweiterten Literaturbegriff zu fassen ist: vom Comic, über die Textnachricht, die verschiedensten Genres von Literatur, Hörbücher und digitale Medien.

In jeder der oben genannten Stationen findet man herausragende Beispiele. Es wird schon viel getan. Die Auswahl an Programmen ist groß und es gibt zahlreiche regionale Angebote. Alle in der Leseförderung Tätigen sollten zumindest einige kennen, um die ihnen anvertrauen Kinder und Jugendlichen bzw. deren Eltern auf diese Möglichkeiten hin zu weisen. Exemplarisch werden einige herausgegriffen.

Programme zur schulischen und außerschulischen Förderung von literarischer Bildung

Die Programme zeichnen sich aus durch individuelle Förderung und niedrigschwellige Angebote, mit denen es gelingen soll, Barrieren abzubauen. Sie setzen dabei auf regelmäßige Angebote, um eine nachhaltige Leseförderung zu ermöglichen. Einige arbeiten mit mehrsprachigen Materialien.

Kitas

„Lesestart 1-2-3“ – Ein Programm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, das bereits bei sehr jungen Kindern ansetzt und besonders Familien mit Sprachbarrieren oder aus bildungsfernen Schichten unterstützt.

„Einfach Vorlesen“ – Eine Initiative der Stiftung Lesen, bei der mittels einer App ständig wechselnde altersgerechte Geschichten vorgelesen werden können.  Das Angebot ist kostenlos.

Grundschule

  1. „Mentor – Die Leselernhelfer“ – Ein bundesweites Netzwerk, das ehrenamtliche Lesepaten an Grundschulen vermittelt für 1:1-Leseförderung.
  2. „Antolin“ – Ein Online-Portal zur Leseförderung für alle Kinder mit Geschichten auch in den Herkunftssprachen. Es kann nach einer Anlernphase eigenständig eingesetzt werden.
  3. „Teach First Deutschland“ – Fellows unterstützen an Brennpunktschulen auch bei der Leseförderung.
  4. Kommunale Programme oder auch Bibliotheken setzen in vielen Städten Lesepatinnen und -paten ein, die gezielt an Grundschulen mit besonderem Förderbedarf arbeiten.

Weiterführende Schulen

  1. „Niemanden zurücklassen“ – Ein Programm verschiedener Bundesländer mit Leseförderschwerpunkt für Schüler mit Leseschwierigkeiten in der Sekundarstufe.
  2. „Leseclubs und media.labs“ der Stiftung Lesen zur literarischen Bildung und Vermittlung von Medienkompetenz
  3. „Lesementoren“ – In vielen Städten organisierte Programme, die auch an weiterführenden Schulen mit hohem Anteil benachteiligter Schüler arbeiten.

Vorbilder sind gefragt

Eine ganz besondere Rolle kommt in allen diesen Fällen der Lehrkraft, den Mentorinnen und Mentoren oder den Lesepatinnen und Lesepaten zu. Wer für Bücher, für Literatur brennt, wer begeistert ist von Geschichten, dem kann es auch gelingen genau das Vorbild zu sein, welches den Kindern und Jugendlichen zuhause fehlt.

Literaturauswahl als entscheidender Faktor

Neben der Lehrerrolle spielt die Auswahl der Lektüre oder Medien eine wichtige Rolle:

Um benachteiligte Schülerinnen und Schüler beim Lesen zu unterstützen, sollten lebensnahe Texte oder Medieninhalte gewählt werden. Dazu zählen Alltagsgeschichten, authentische Darstellungen sozialer Kontexte, Protagonisten mit ähnlichen Hintergründen und Geschichten über Resilienz. Eine Vielfalt an Formaten, wie Graphic Novels, spannende Literatur und kurze Texte, erleichtert den Zugang. Digitale Angebote wie Hörbücher und E-Books bieten einfache Einstiegsmöglichkeiten. Anfangs sollten Texte sprachlich weniger komplex sein, aber kindgerechte Themen oder jugendrelevante Konflikte behandeln. Differenzierungsmöglichkeiten in den Texten berücksichtigen unterschiedliche Lernvoraussetzungen. Auch mehrsprachige Angebote können den Einstieg erleichtern.

Wer konkret auf der Suche nach geeigneten Lektüren ist, die Wert auf Differenzierung, Individualisierung und Alltagsbezug legen, der wird bei verschiedenen Reihen von Klett-Sprachen fündig. Viele der Lektüren bieten zusätzlich Handreichungen für Lehrkräfte zum Download an. Neben Lehrkräften kann dies gerade auch für ehrenamtlich Tätige sehr hilfreich sein.

Für den Grundschulbereich:

Bunte Geschichten für ein buntes Klassenzimmer

gemeinsam ● individuell ● differenziert ● unterhaltsam ● spannend

Ideal für den differenzierten Deutschunterricht in der 3. und 4. Klasse!

Ab der Sekundarstufe:

  • Deutsch³ bietet alltagsnahe Geschichten auf drei Niveaustufen, auch für Willkommensklassen und DaZ geeignet
  • Deutsch – leichter lesen enthält Titel bekannter Kinder- und Jugendbuchklassiker wie beispielsweise Tintenherz, Tschick oder die Vorstadtkrokodile – die gekürzt und sprachlich vereinfacht zum Lesen anregen

Die Reihe Schlau mit blau bietet motivierende Texte und gezielte Leseförderung für Leserinnen und Leser ab Klasse 5. Die Schulausgaben aktueller Jugendbücher enthalten blaue Seiten mit Übungen und Rätseln zum Leseverstehen.

Wer sich weiter informieren will, findet unter diesem Link Anregungen.

Die Eltern mit ins Boot nehmen

Doch neben all diesen Maßnahmen spielt auch das Elternhaus eine entscheidende Rolle. Immer wieder muss versucht werden, auch die Eltern mit ins Boot zu holen. Dies ist umso wichtiger, je jünger die Schülerinnen und Schüler sind.

Es gibt verschiedene Maßnahmen, die Eltern aus benachteiligten Verhältnissen in die Leseförderung ihrer Kinder einbeziehen. Diese Ansätze sind besonders wichtig, da sie die Nachhaltigkeit der Leseförderung erhöhen:

Mehrsprachige Elternabende:

Aufklärung der Eltern über die besondere Bedeutung der Leseförderung im Allgemeinen und über den Beitrag, der zuhause geleistet werden kann.

Family Literacy Programme:

Programme wie „FLY“ in Hamburg unterstützen Eltern und Kinder beim gemeinsamen Lesen. Sie bieten Workshops an, um die Sprachkompetenzen der Eltern zu verbessern und ihnen Vorlese-Strategien zu vermitteln.

Mehrsprachige Lesepatenmodelle:

In kulturell diversen Umgebungen werden Eltern beispielsweise in Bibliotheken eingeladen, in ihrer Muttersprache vorzulesen oder zu erzählen. So werden kulturelle Ressourcen wertgeschätzt und aufgezeigt, dass Leseförderung nicht auf die Unterrichtssprache beschränkt sein muss.

Niedrigschwellige Elternworkshops:

Bibliotheken und Schulen bieten kurze, praxisorientierte Workshops an, die Eltern Tipps für das Vorlesen und Gespräche über Bücher geben.

Buchgeschenk-Programme:

Initiativen wie „Lesestart“ in Deutschland verteilen kostenlose Buchpakete an Familien, verbunden mit mehrsprachigen Informationen für Eltern zur Leseförderung.

Familienbibliotheksführungen:

Speziell für Familien, die noch nie eine Bibliothek besucht haben, werden einladende Führungen organisiert, die die Hemmschwelle senken und den Zugang zu kostenlosen Lesematerialien erleichtern.

Digitale Unterstützungsangebote:

Apps und Online-Plattformen wie Amira-Pisakids.de mit mehrsprachigen Geschichten helfen Eltern, die Leseentwicklung ihrer Kinder zu unterstützen, auch wenn sie selbst unsicher im Lesen sind.

Diese Maßnahmen sind besonders erfolgreich, wenn sie kultursensibel vorgehen und sprachliche Vielfalt anerkennen, flexible Zeitstrukturen bieten sowie die Eltern als kompetente Partner behandeln statt als „zu Belehrende“.

Vielfältige Angebote bereitstellen, damit Chancen ergriffen werden können.

Kinder aus bildungsfernen Familien sind beim Lesen mehrfach benachteiligt – durch fehlende Vorbilder, mangelnde Ressourcen und geringe frühkindliche Förderung. Um diese Defizite auszugleichen, braucht es vielfältige Förderansätze entlang der gesamten Bildungskette sowie eine gezielte Literaturauswahl, die Lebensrealitäten und unterschiedliche Leseniveaus berücksichtigt. Nur durch ein breites Engagement aller Beteiligten kann es gelingen, literarische Bildung für alle Kinder und Jugendlichen zugänglich zu machen.

Denn: Literarische Bildung ist mehr als Kompetenzerwerb – sie eröffnet Welten, schafft Perspektivwechsel und ermöglicht kulturelle Teilhabe. Wenn es gelingt, benachteiligte Kinder und Jugendliche für Literatur.