Zum Erscheinen der „Leiden des jungen Werthers“ vor 250 Jahren

von Stephan Gora

Und immer, wenn es Zeit wär, zu geh’n
Vergess‘ ich, was mal war und bleibe steh’n
Das Herz sagt: „Bleib!“ / Der Kopf schreit: „Geh!“

Herz über Kopf / Herz über Kopf

Ich fühl‘ dich so oder so
Ich lieb‘ dich so oder so
Glaub mir, ich will dich, fühl‘ dich, lieb‘ dich so oder so

Was vermag eine Generation, die sich von Joris und Michelle hat beschallen lassen, zum Lesen verführen, wenn der Titelheld in braunen Stulpenstiefeln und rundem Filzhut daherkommt, zum blauen Frack mit Messingknöpfen eine gelbe Weste trägt, sich die Haare als Zeichen seiner Rebellion nicht pudert, sich am Ende aber am Schreibtisch sitzend vor dem aufgeschlagenen Drama „Emilia Galotti“ eine Kugel in den Kopf jagt?

Auf den ersten Blick stellt dies für jede Lehrkraft im Hinblick auf Motivation und Methode eine erhebliche Herausforderung dar, allerdings nur, wenn man sich von modischen Äußerlichkeiten, einer ungewohnten Sprache und dem inzwischen fremden Medium „Brief“ abschrecken lässt. Gerade das Fremde kann auch Energien freisetzen, etwa: wenn Werthers Auftreten mit dem der „Stars“ der bunt schillernden Medienwelt verglichen, wenn der überschwängliche Briefstil in die Jugendsprache übersetzt oder Werthers Briefe als WhatsApp-Meldungen gestaltet werden sollen (dabei könnte das Scheitern des letzten Vorschlags durchaus ein beabsichtigter Lernerfolg sein 😉.)

Gerade Jugendliche sind oft fasziniert von exzentrisch auftretenden Persönlichkeiten. Sich von „Spießern“ abzusetzen und das Anders-Sein zur Schau zu stellen, vom eigenen Geschmack und Auftreten überzeugt zu sein, Hobbys und Vorlieben zu pflegen, die nicht jeder teilt (Bei Werther sind es Homer, Ossian, Klopstock!), sich gesellschaftskritisch zu äußern und nonkonformistisch zu verhalten, das kann Kreativität und intensive Gefühle freisetzen und bei den Bewunderern Neugierde wecken.

Wenn überhaupt jemand jungen Menschen das Prinzip „Herz über Kopf“ vorleben kann, dann ist es der junge Werther! Als er Charlotte auf einem Ball kennenlernt, wird er gewarnt, dass die attraktive Frau mit den schwarzen Augen „schon vergeben“ wäre, aber das ist für ihn kein Grund, auf die „Vernunft“ zu hören: Wenn das „Herz spricht“, regiert im „Sturm und Drang“ eben nicht der Kopf. Dies lässt sich zudem leicht nachvollziehen, wenn man bedenkt, wie Werther den Verlobten von Charlotte wahrnimmt: als einen ordnungsliebenden, kleinkarierten Workaholic, den „jedes elende Geschäft mehr an[zieht] als die teure, köstliche Frau!“ Werther gesteht Albert zwar zu: „ein braver, lieber Kerl, … dem man gut sein muss“; er geht aber ganz selbstverständlich davon aus, dass sein Rivale Charlotte nicht bieten kann, was er selbst zu bieten hätte. So ist Albert für Werther (wie Dieter für Edgar Wibeau in Ulrich Plenzdorfs Neufassung): ein angepasster Spießer, der in der Dreiecksbeziehung die schlechteren Karten hat. Diese selbstgefällige (Fehl-)Einschätzung zu entlarven, könnte am Ende der Unterrichtseinheit ein zentrales Unterrichtsziel sein. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass sich Werther nur aufgrund seiner ökonomischen Saturiertheit die Zeit für seine Besuche, das Schwelgen in der Natur und den intensiven Briefwechsel leisten kann, ganz zu schweigen von seinem abschätzigen Urteil über Alberts Arbeit. Und schließlich könnte die Anregung sich auszumalen, wie eine Beziehung zwischen Charlotte und Werther hätte gelingen können, den Unterschied zwischen Verliebt-Sein und einer tragfähigen Partnerschaft bewusst machen.

Doch zuvor kann der „junge Werther“, wenn man sich unvoreingenommen auf den literarischen Text einlässt, durchaus zur Identifikation einladen. Wer stimmt nicht zu, wenn sich Werther über das Abholzen des Nussbaums ereifert, wenn es ihn von der „unangenehmen Stadt“ in die „paradiesische Natur“ zieht, wo der Pantheismus zum bequemen Religionsersatz wird, wenn er gleichermaßen die „fatalen bürgerlichen Verhältnisse“ und den adligen Standesdünkel beklagt? Erleben Jugendliche in Elternhaus und Schule nicht auch „Einschränkungen, in welche die tätigen und forschenden Kräfte des Menschen eingesperrt sind“? Können sich Heranwachsende nicht auch mit Werther identifizieren, der sich gegen Konventionen wehrt und aus dem „Käfig“ ausbrechen möchte? Beschreibt Udo Lindenbergs Refrain: „Ich mach mein Ding / Egal, was die ander’n sagen“ nicht eine Haltung, die unseren Schülerinnen und Schülern spontan zu Werther einfallen könnte?

Die Verabsolutierung der eigenen Wahrnehmungen und Gefühle zeigt allerdings auch die Gefahr, in der Werther schwebt. Denn ihn tröstet, als er realisiert, dass er Charlotte nicht haben kann, der Gedanke, „dass er diesen Kerker verlassen kann, wenn er will“. Sein Freitod am Ende des Briefromans hat die Generation des „Sturm und Drang“ berührt wie keine andere, denn sie empfand sich im Kampf gegen die „Vernunftehe“ als Vorkämpferin für die individuelle, auf echte Gefühle gegründete Liebe – mit der fatalen Konsequenz des Suizids, wenn dieses absolut gesetzte Gefühl an der Wirklichkeit zerbricht.

So gesehen bietet Goethes Briefroman weit mehr als nur das Ausdeuten von biografischen Parallelen (von Charlotte Buff über Joh. Chr. Kestner, C. W. Jerusalem und P. Brentano bis hin zu den „schwarzen Augen“ von Maximiliane de La Roche). Auch dass „Emilia Galotti“ ein bürgerliches Trauerspiel mit vergleichbarer Thematik und Tragik ist, in dem Lessing zeigt, dass sich bürgerliche Figuren als tragische Helden eignen, mag für uns Germanisten literaturgeschichtlich relevant sein, dürfte aber zur Steigerung der Lese-Motivation wenig beitragen.

Die Qualität des literarischen Textes und seine Eignung für den Deutschunterricht erweist sich vielmehr darin, dass sich für manche „Leiden“ der jugendlichen Leser überraschende Parallelen finden, die zur Identifikation einladen; zugleich provoziert der Charakter der Titelfigur aber auch eine kritische Auseinandersetzung – mit Werther und mit den eigenen Befindlichkeiten der Lesenden. Die Themenvielfalt des Briefromans hat sich längst von seiner Entstehungsgeschichte emanzipiert.

„Die Leiden des jungen Werthers“ von Johann Wolfgang von Goethe ist bei Ernst Klett Sprachen in der Reihe „Klassiker trifft Comic“ erschienen.

Stephan Gora unterrichtet Deutsch, Psychologie und Rhetorik am Mädchengymnasium Sankt Gertrudis in Ellwangen und hat bei Klett-Kallmeyer die „Praktische Rhetorik. Rede- und Gesprächstechniken in der Schule“ veröffentlicht.