von Susanne Helene Becker

Die unschöne neue Welt des Romans

Wenn man in diesen Tagen „Drohnenpilot“ in eine Internet-Suchmaschine eingibt, verweisen die ersten Ergebnisse auf Faktisches, dann erst auf eine Fiktion, nämlich den Roman Der Drohnenpilot: Vieles, was diese dystopische Erzählung während ihrer Entstehung vor etwa fünf Jahren vorwegzunehmen schien, ist bereits eingetroffen.

Die Bundeswehr schaltet Anzeigen, um nach Aspiranten für den Beruf des Drohnenpilots zu suchen, Magazinbeiträge diskutieren, inwiefern Online-Spiele von Talentscouts durchforstet werden, und bieten den Erwerb von Drohnenführerscheinen an. Die Zahl derer, die in jüngerer Zeit nach Deutschland flüchteten, hat tatsächlich Diskussionen ausgelöst, wie Nesch sie aus seiner Gegenwart extrapoliert hatte; die Schweiz erprobt das Grundeinkommen – alles Entwicklungen, die in Der Drohnenpilot aufgegriffen werden.

Drohnen können natürlich überaus nützliche Aufgaben erfüllen, wie etwa Luftaufnahmen von für bemannte Flüge unzugänglichen Gegenden machen, sie können durch giftige Tanks fliegen, um deren Füllung und den Zustand des Materials zu dokumentieren oder Dachkonstruktionen von Industriebauten inspizieren – alles für Menschen gefährliche Dinge, die ein kleines Flugobjekt erfüllen kann, wenn der Pilot gar nicht im Cockpit sitzt, sondern die Drohne fernsteuert. Bioniker/-innen haben ursprünglich durchaus redliche Ideen gehabt, als sie ihre Forschungen von der Flugperfektion der Hornissendrohne inspirieren ließen. Thorsten Nesch aber erzählt in seinem Roman, wie diese Technik in einer unschönen neuen Welt für unschöne Ziele eingesetzt wird – und das alles aus Sicht des jungen Darius. Und diese Geschichte kreist um die Perfidie des Einsatzes von Drohnenpiloten, die darin liegt, dass diese gar nicht mehr realiter am Einsatzort sind, sondern in einer entlegenen Zentrale sitzen und von dort die Flieger digital steuern.

Leben in der nahen Zukunft

Darius – schon der Name der Fokalfigur ist nicht zufällig gewählt. Der aus dem Altpersischen stammende Name bedeutet „das Gute festhaltend“, „Inhaber des Guten“ oder „der Mächtige“. Figuren dieses Namens kennen Leser/-innen vielleicht aus den Romanen Tintenherz, Die Tribute von Panem oder aus dem Computerspiel League of Legend.

Hier nun ist Darius Drohnenpilot in einer vorgeblich besseren Welt. Leben möchte man in dieser tatsächlich aber unschönen neuen Welt nicht, denn Big Brother ist dank technischer Raffinesse in ungeahntem Ausmaß Realität geworden. In Darius’ Welt überwachen Drohnen nicht nur Grenzen, um zu verhindern, dass Flüchtlinge ins Land kommen könnten, sondern auch die eigene Bevölkerung – durchgespielt am Beispiel der jungen Aktivisten, die den Schwanensee im Ort vor Bauspekulanten schützen wollen.

Nesch schildert aus der Sicht seines jugendlichen Ich-Erzählers Darius, wie sich das Leben in einer solchen Zukunft gestaltet. Darius ist ein begeisterter Gamer: Über sein Lieblingsvideospiel, das Flüge für Kampfeinsätze simuliert, wird er als Drohnenpilotanwärter rekrutiert. Dieses Spiel wird von einem großen Überwachungskonzern gesponsert, der die Spielplattform für die Talentsuche geschaffen hat, eigentlich aber weitreichende Überwachungs- und Kampfeinsätze übernimmt.

Natürlich ist Darius stolz, als er ausgewählt wird, für D-Air zu arbeiten. In dieser zukünftigen Gesellschaft sind Arbeitsplätze rar – ausgenommen im Bereich der Altenpflege – und die meisten Menschen leben von einem bescheidenen Grundeinkommen. Darius aber kann nun die enge und ärmliche Wohnung verlassen, die er seit dem Tod der Mutter alleine mit seinem Vater teilt und in eine eigene, luxuriös ausgestattete Wohnung ziehen, sich einen angesagten Haarschnitt und ebensolche Kleidung leisten. Der Preis dafür ist nicht gering: Schlafmangel, traumatische Erlebnisse und die geforderte Allzeit-Verfügbarkeit sind energieraubend und schon bald muss Darius auf ein Psychopharmakon zurückgreifen, das alle zu nehmen scheinen, die schon länger dabei sind. Mehr und mehr gerät Darius in einen Konflikt mit „der Macht“. Für diese digitale Form der Oligarchie in einem subtil operierenden Überwachungsstaat findet Nesch mit der Stimme der „Autorität“ eine passende Metapher für „die Macht“. Sie ist der oberste Befehlshaber – ob nur bei D-Air oder im gesamten Staat, bleibt dahingestellt. Sie ist stets die letzte Entscheidungsinstanz und verlangt unbedingten Gehorsam. Und den ist Darius nach einem für ihn traumatischen Erlebnis nicht mehr bereit zu erfüllen. Als Entwicklungsroman verfolgt die Geschichte den Wandel von Darius und zeichnet dessen Weg von der ersten euphorischen Faszination in seinem neuen Job bis zu seiner fristlosen Kündigung nach. Nesch wählt dazu verschiedene Erzählstrategien und Figurenkonstellationen, um von Darius’ Entwicklung zu erzählen: Zum einen lässt die die Perspektive gebende Fokalisierung durch Darius den Leser an dessen Gedanken teilhaben, wobei die Erzählstimme steuert, so dass der Leser Darius immer etwas voraus ist. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass der Leser unmittelbar an den Kampfeinsätzen teilnimmt, weil in diesen Passagen vor allem die direkte Figurenrede dominiert. Die Nüchternheit der fachsprachlichen Dialoge schafft dabei einen krassen Gegensatz zu den menschlichen Katastrophen, die die Flugeinsätze auslösen. Zum zweiten arbeitet Nesch mit dem Kontrast zwischen der alten Welt und der neuen Welt. Repräsentanten der alten Welt sind Darius’ Vater, seine Freundin Evelyn und die Umweltaktivisten, zu denen sie sich hingezogen fühlt. Repräsentanten der neuen Welt sind Darius’ Chef Spiess (für Bundeswehrkenner ein sprechender Name), die Kollegen bei D-Air und die beiden ehemaligen Mitschüler, die Darius wiedertrifft.

Dystopie und Entwicklungsroman

Dystopien sind nunmehr schon seit einigen Jahren auf dem Markt der Romane für Jugendliche prominent vertreten. Diese pessimistischen Zukunftsentwürfe greifen oft aktuelle und kritisch diskutierte Entwicklungen, extrapolieren diese und erzählen in systemischer Sicht und konkret, wie sich diese negative Fortschreibung in einer Welt der Zukunft entfalten könnte. Ein Motiv in Jugendromanen ist die soziale Ungleichheit, die in Dystopien auf die Spitze getrieben ist, wie in der Trilogie Die Tribute von Panem von Suzanne Collins. Furcht vor den Folgen für die Gesundheitsfürsorge und die Auslese der Besten entfaltet sich in Romanen, wie etwa ZweiundDieselbe von Mary E. Pearson. Der Drohnenpilot lässt sich mehreren solcher Subgenres der Dystopie zuordnen. Er thematisiert politische und gesellschaftliche Krisen, richtet seinen Blick auf ökonomische Krisen und soziale (Un-)gleichheit, wenn er von der verbreiteten Arbeitslosigkeit erzählt und von dem Kontrast zwischen den vom Grundeinkommen für alle lebenden Menschen und der wenigen, die – wie Darius – gut bezahlten Beschäftigungen nachgehen.

Identität, Werte, Literarisches Lernen

Wenn sich eine Dystopie – also ein pessimistisch-kritischer Zukunftsroman – an Jugendliche richtet, trifft das den moralischen Nerv, der in dieser Entwicklungsphase besonders ausgeprägt ist. In Pubertät und Adoleszenz fokussieren viele Leser/-innen ihr Leseinteresse auf gesellschaftliche, politische, interkulturelle Themen, Fragen der Identitätsentwicklung und der Diskussion über Werte. Der Roman Der Drohnenpilot entspricht solchen Interessen vollständig.

Auch mit Blick auf das literarische Lernen hat der Roman viel zu bieten: Die Schüler/-innen können Gattungswissen erwerben und typische Themen und Darstellungsstrategien der Dystopie kennenlernen. Sie können üben, mit fiktionalen Weltmodellen bewusst umzugehen und deren innerliterarische Realität kohärent zu erfassen, indem sie von der impliziten Textbedeutung zur expliziten vordringen. Sie erschließen sich die grundlegende semantische Ordnung des Romans in „Alte Welt“ und „Neue Welt“; lernen, die Merkmale der Figuren zu erkennen und zu interpretieren und diese als absichtsvolle literarische Konstruktionen und Repräsentanten aufzufassen. Sie deuten Leerstellen aus und setzten den Roman schließlich in Beziehung zu unterschiedlichen literarischen und außerliterarischen Kontexten, die sie dann schriftlich oder mündlich erörtern.

Durch die Wahl der Figurengruppe, der Nebenhandlungen und dem Fokus auf moralische Entscheidungen, bei dem die Leser/-innen mit unterschiedlichen Meinungen und Vorstellungen konfrontiert sind, vermag der Der Drohnenpilot unterschiedliche Lektürepräferenzen in einer heterogenen Klasse zu erfüllen, denn er bietet sowohl kämpferische Aktion der Drohnenpiloten und auf Seiten der Umweltaktivisten als auch die Reflexion sozialer, politischer und moralischer Fragen; er erzählt sowohl von (Helden)Taten als auch von zwischenmenschlichen Beziehungen und berührt dabei Themen wie Liebe und Freundschaft. Aufgrund dieses breiten Spektrums an Anschlussmöglichkeiten bietet der Roman sich als Klassenlektüre geradezu an.

Thorsten Nesch
Der Drohnenpilot
232 Seiten
978-3-12-666921-4